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Agnes Hidveghy

Stille Nacht, Heilige Nacht

Zeit der Umkehr

Isenheimer Altar, Colmar

ott ist Mensch geworden.«
Das ist die Botschaft von Weihnachten.
Hier und jetzt, in der Gegenwart und immer,
überall im Universum.

Es ist Spätherbst geworden. Die Novemberstürme haben den letzten Rest von dem, was an die fruchtbaren Zeiten erinnert, weggefegt. Das Leben hat sich in die Tiefe der Erde zurückgezogen. Es überdauert die Kälte und Dunkelheit in Wurzeln, Zwiebeln und Samenkörnern und wird im Frühling mit neuem Leben wieder in die sichtbare Welt durchbrechen. Jedes Jahr erhalten wir die gleichen Botschaften, verkleidet im jährlichen kosmischen Rhythmus, damit wir an das erinnert werden, was wir gewusst, aber wieder vergessen haben – erinnert an das Wissen der Seele um ihren Ursprung und unseren menschlichen Weg mit dem Auftrag, der tief in uns im Keim schlummert.

Unsere Augen sind jedoch durch die Lichter der Welt geblendet. In vielen Formen werden uns »Briefe des Vaters« geschickt, damit wir erwachen, sehend werden, um zu erkennen, wozu wir hier auf dem Planeten Erde in einem menschlichen Körper inkarniert sind. Um den Inhalt dieser Botschaften zu verstehen, ist es notwendig, »die Siegel zu erbrechen«. Uns sind die zyklischen Veränderungen des Jahres zu erklärbaren Phänomenen geworden, so selbstverständlich zum Leben gehörend, dass die in ihnen verborgene Botschaft unser Herz nicht erreicht. Das Wunder, dass alles so ist, wie es ist, wird durch Schleier des vermeintlichen Verstehens verhüllt – eben versiegelt.

Was jenseits der Erklärbarkeit ist, bleibt in der Dunkelheit unserer Seele unerkannt. Dort wartet das vergessene Wissen unserer Bestimmung darauf, geweckt zu werden. Um zur Erinnerung zu finden, ist das Hineintauchen zu seinem Ursprung in die tiefe Stille notwendig. Das ist für unsere an das Tageslicht gewohnten Augen zuerst einmal nichts anderes als Dunkelheit. Von dieser »Heiligen Nacht« zeugt das Lied, das wir an Weihnachten singen. Wenn wir sie finden möchten, dann kommen wir nicht darum herum, uns auf diese Dunkelheit einzulassen. Das neue Leben unserer Seele wird in der Dunkelheit unseres Unbewussten aufbewahrt, so wie das Samenkorn in der dunklen Erde eine schützende Geborgenheit findet, um den Übergang zu neuem Leben behütet zu überstehen.

In der Jahreszeit der Dunkelheit gibt uns die kosmische Energie auf dem Planeten Unterstützung, um in diese Tiefe einzutauchen. Die Natur zieht uns nicht mehr nach außen, sie gibt uns keinen dringenden Anlass zur Beschäftigung. Sie schenkt uns Zeit, sie lässt uns ausruhen, um uns selbst zu finden. So wurde immer, in jeder spirituellen Tradition, am Tiefpunkt dieser Zurückgezogenheit die Wintersonnenwende, die Geburt des Lichtes gefeiert; nicht nur im Sinne des natürlichen, kosmischen Rhythmus des Jahres, sondern analog dazu auch als innerseelische Erfahrung.

Wie könnten wir diese Verknüpfung wahrnehmen in dem betäubenden Glitzern und der hektischen Geschäftigkeit gerade in der Adventszeit? Wir erschaffen eine Welt von künstlichen Lichtern um uns herum, die uns von dem Weg zur Wahrnehmung des inneren Lichtes ablenkt. Wir scheuen die Dunkelheit, wir meiden die Ruhe der »Stillen Nacht«, die – wie in der Natur – einzig in die Tiefe führt, wo Umkehr möglich ist. Diese Umkehr, in der originalen griechischen Fassung des Neuen Testaments metanoia genannt, ist immer wieder die Voraussetzung, um den Weg »nach Hause« anzutreten. Wie könnte es eine andere Möglichkeit geben, nachdem wir aus der Einheit »in die Welt« hinausgeschickt worden sind?

»Briefe vom Vater«, von unserem Ursprung als Botschaften aus der Einheit werden nicht nur durch die Natur widergespiegelt. Die religiösen Feste wurden schon immer erschaffen, um uns an unsere Quelle zurückzubinden: Religio bedeutet im Lateinischen »Rückbindung«. So wurden Parabeln, Geschichten und Legenden großer Religionen in diesem Sinne Träger von Botschaften »vom Himmel«. Sie überlebten Jahrtausende, weil sie die Seelen an ihre Wirklichkeit erinnern. Künstler, die bereits zum Ursprung und zum Sinn menschlichen Daseins erwacht sind, drücken in ihren Werken und Bildern eingekleidet das innerste Wissen um diese erfahrene Wirklichkeit aus.

Die gemalten, geschnitzten oder erzählten Bilder sprechen das Wissen, das tief in uns den Kern der Seele ausmacht, direkt an. Die Seele kommuniziert in Bildern, darum werden die Mitteilungen von spirituellen und religiösen Traditionen in Bildern übermittelt. Wir haben in unserer Zeit mehr und mehr den Zugang zur Bildersprache verloren: Die Überbewertung des Denkens blockiert den Kontakt zu dieser direkten Möglichkeit des Verstehens. Die intellektuellen Interpretationen liegen wie Schleier über der Seele […]Wenn im Universum die Lebenszeit einer Sonne zu Ende geht, nimmt ihre Strahlenkraft ab, und sie dehnt sich gleichzeitig aus. Ihr Mantel wird immer dünner, substanzloser, bis er abgeworfen wird. Zurück bleibt ein heißer, energiereicher Kern: der weiße Zwerg.

Das Christentum befindet sich in einer vergleichbaren Phase. Die äußeren Formen sind leer geworden, nähren die inneren Bedürfnisse der Menschen kaum noch. Die Institutionen der Kirchen suchen nach einer funktionellen Identität und nicht nach der Quelle, die ihre Formen aus der inneren Erfahrung heraus aufgebaut hat. Eine wirkliche Erneuerung kann nur von denen ausgehen, die um diese Quelle aus eigener Erfahrung wissen. Es gibt nur wenige davon, und sie erhalten oft keine Unterstützung von der Kirche.

Unsere Seele hungert aber nach dieser Quelle, sie will keine leeren Formen und Geschichten, und sie interessiert sich nicht für geschichtliche Ereignisse und moralische Auslegungen, die sie nicht nähren. Jeder Mensch will für sich erfahren und sucht nach einem Wegweiser, um auf dem eigenen Weg die Rückverbindung zur Quelle zu finden – den individuellen Gegebenheiten und Möglichkeiten entsprechend.

Die verpsychologisierte Auslegung der Religion bietet jedoch keinen Ansatz dazu. Analysen und innere Selbsterfahrungen lassen uns mit einem schalen Gefühl zurück. Es ist ein innerer Drang nach Verstehen. Der Mensch von heute will zu seinem Auftrag finden, zu dem Auftrag, der von Anfang an den Kern seines Wesens ausmacht und den er als inneres Wissen wahrzunehmen fähig ist. Er will das Potenzial verwirklichen, das in der christlichen Tradition dadurch ausgedrückt ist, dass der Mensch »als das Ebenbild Gottes« erschaffen wurde. Im Lichte der gängigen psychologischen und inneren Strömungen wird oft darüber gesprochen, aber selten werden wir als »Ebenbild Gottes« erkannt; erkannt in unserer Wesenhaftigkeit und ihren Möglichkeiten.

Diesen heißen »weißen Zwerg«, den suchen wir: die Essenz, die erlebte und für alle erlebbare Quelle, die jenseits der sich ändernden Formen existiert. Wir suchen nach unserer Identität, die nach dem Verlassen der irdischen Hülle bleibt. Jede religiöse Tradition, die ihre Bilder aus der inneren Erfahrung der Quelle heraus erschafft, hat ihre eigene Ausdrucksweise. Diese Bilder werden erzählt, als Kunstwerke gestaltet, gebaut, gesungen, getanzt oder gespielt. Damit erreicht das Wissen um unsere Bestimmung und den Weg dahin spätere Generationen. All diese »Verkleidungen« umgehen den Verstand. Denken wir nur an die Wirkung der Märchen oder an die mythologischen Geschichten der alten Griechen. Sie sind mehr als Stoff für Unterhaltung und gehen tiefer als moralische oder psychologische Deutungen.

Was uns heute fehlt, ist eine Brücke zwischen unserem Alltagsbewusstsein und dem, was uns im Innersten berührt. Nur eine Übersetzung der Bilder in die Sprache unserer Zeit kann diese Brücke bilden, die wir auf unserem individuellen Weg brauchen. Dabei geht es nicht um eine übergestülpte, intellektuelle Interpretation, sondern um eine aus der inneren Erfahrung hervorgegangene Erkenntnis, die uns Impulse zum eigenen Verstehen gibt. Erst das eigene Verständnis ermöglicht, den eigenen Weg zu gehen. Wir brauchen gewissermaßen eine Landkarte und jemanden, der uns zeigt, wie diese Landkarte benutzt werden kann – den Weg müssen wir selber gehen. Unseren individuellen, in der Schöpfung einmaligen Weg.

Die meisten von uns tragen die Bilder der christlichen Tradition als Samen in sich. Die Bilder schlummern ihren Dornröschenschlaf, bis sie im Lichte von Verständnis geweckt werden. Erst dann werden die erzählten Bilder uns auf dem inneren Weg zum – wie es in der christlichen Tradition genannt wird – Christus-Bewusstsein leiten. Informationen im Gedächtnis zu sammeln, genügt nicht. Erst wenn wir wesenhaft zu erkennen fähig werden, können die verinnerlichten Bilder die Seele heil werden lassen: »bis dass Christus in euch Gestalt gewinnt«, wie es Paulus ausdrückt (Gal. 4.19).

Mit den gängigen wörtlichen Übersetzungen alter heiliger Schriften aus dem Mittleren Osten werden wir dem Inhalt nicht gerecht. Sowohl Hebräisch, Aramäisch, Arabisch wie auch das Altgriechische haben von unseren europäischen Sprachen abweichende Strukturen. Sie fassen in ihren Ausdrucksmöglichkeiten Begriffe zusammen, die mit der gleichen Grunderfahrung zu tun haben. In der Übersetzung kann man diese Zusammenhänge nicht berücksichtigen, wodurch die Vielschichtigkeit in den Erzählungen verloren geht.

Wir können das Innenleben der alten Begriffe nur mit Umschreibungen in unserer heutigen Sprache erfassen. Das Verständnis des Übersetzers spielt dabei eine entscheidende Rolle: Er wird diejenige Entsprechung eines Begriffes aus der Komplexität herausgreifen, die seinem Verständnis entspricht. Alles andere geht bei der Übersetzung unter. Die Komplexität einer Sprache können wir unvorbereitet jedoch nicht verstehen. Dazu kommt der Umstand, dass jede Sprache etwas Lebendiges ist; der Inhalt der Begriffe verändert sich ständig. So wird diese Arbeit der Übersetzung von jeder Generation neu gefordert, damit das Wissen um die »Eine Wirklichkeit« nicht verlorengeht. Deshalb ist es nötig, alte Texte in die für uns vertraute, heutige Sprache zu übersetzen […]

Aus: Agnes Hidveghy: Stille Nacht, Heilige Nacht. Der innere Weg nach Bethlehem

© Agnes Hidveghy / Ars Sacra Verlag
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Bücher zum Thema

Agnes Hidveghy: Stille Nacht, Heilige Nacht. Der innere Weg nach Bethlehem. Ars Sacra Verlag, Amden. ISBN 978-3-9522810-2-4. Dieser und weitere Titel von Agnes Hidveghy können direkt beim Ars Sacra Verlag [/] bezogen werden.